Was ist China? Dieses Land am anderen Ende der Welt, von dem man nur ab und zu etwas Positives in der Zeitung liest? Ja im Wirtschaftsteil kann man fast täglich davon lesen. Handelskrieg mit den USA, hier und dort wieder ein deutsches, mittelständisches Unternehmen gekauft. Aber mal etwas positives lesen? Meist Fehlanzeige. Und sonst? Man „kennt“ China, das alte China aus der Mingdynastie mit den schönen Porzellanvasen. Man hat schonmal was von der Terrakottaarmee und der Verbotenen Stadt gehört und man kennt Mao und wie heißt er doch gleich? Ach ja, Xi Jinping und Jackie Chan.
Wenn man jemanden im Bekanntenkreis kennt, der schonmal in China war, weiß man eventuell etwas mehr über dieses fremde Land. Aber sonst ist die Kenntnis über dieses Land am anderen Ende der Welt für die meisten Menschen in Deutschland und Europa doch völlig fremd und unbekannt. Bis 2016 so auch für mich. Während der Schulzeit und auch danach in der Ausbildung und im Beruf hatte ich mich nie für fremde Länder und Kulturen interessiert. Zumindest nicht sonderlich tief.
Es gab einige interessante Epochen und Zivilisationen, wie das Alte Ägypten oder das Römische Reich. Doch ein Verständnis oder tieferes Interesse für das moderne Ägypten oder Italien hat sich nie entwickelt. Während der Schulzeit hatte sich zudem der Entschluss gefestigt, niemals etwas mit Englisch oder gar Französisch machen zu müssen. Doch auch das sollte sich Ende 2016 schlagartig ändern. Ich arbeitete in einem Softwareunternehmen und beim Einstellungsgespräch hieß es, dass es sein könnte, dass ich mal ins Ausland gehen müsste. Das war 2014. Alles sehr vage damals. Doch dann stand plötzlich eine Dienstreise an. Zwei volle Wochen. Die letzte Novemberwoche und Anfang Dezember. Nach China.
Ich sagte zu, ohne groß darüber nachzudenken, was es für Konsequenzen haben könnte oder was das für mich bedeuten würde. Erst ein paar Stunden später und auch in den folgenden Tagen wurde mir klar, was es bedeuten würde eine solche Dienstreise zu tätigen. Ich müsste tatsächlich Englisch reden. Ich siedelte meine sprachlichen Fähigkeiten sehr tief an. War ich doch nie sonderlich gut im Englischunterricht. Und auch hatte ich Englisch so gut wie nie aktiv sprechen müssen. Aber China?
Würden die mich überhaupt verstehen können mit meinem schlechten Englisch? Ein Gespräch mit einem Kollegen, welcher zuvor schonmal eine Dienstreise nach China tätigen musste, sollte Klarheit bringen und mich beruhigen. Weit gefehlt wie sich herausstellen sollte. Das Gespräch unter Kollegen fiel damals nicht sonderlich positiv aus. Vor allem was das Essen anging. Man müsse aufpassen, was man so alles essen würde. Schlechte Luft sei dort und noch vieles mehr, an das ich mich nicht mehr so ganz genau erinnern kann. Nun stand ich da, in meiner Wohnung, mit gepacktem Koffer. Nervös ohne Ende, den Kopf voller negativer Gedanken. Alle hatten mir gut zugeredet, doch geholfen hat das am Ende so gut wie nichts. Wird schon schief gehen, irgendwie.
Am Flughafen in Frankfurt war das Gepäck schnell aufgegeben und ich saß nach einer gefühlten Ewigkeit irgendwann im Flieger an meinem Sitzplatz. Die Nervosität wuchs. Nach endlosen Stunden (für die ca. 8500km benötigt man zwischen 9.5 und 13h) erreichten wir chinesischen Luftraum. Mein Flug sollte nach Guangzhou gehen und von dort weiter nach Shenyang. Ich verfolgte den Flug auf dem Bildschirm vor mir auf einer virtuellen Landkarte. Ein so riesiges Land mit unzähligen Städten, von denen ich kaum einen Namen zuvor zu Gehör bekommen hatte. Doch dann plötzlich eine Durchsage. Aufgrund von schlechtem Wetter würden wir in Changsha landen und nicht in Guangzhou.
Super, dachte ich, kaum ist man in China fangen die Probleme an. Zwar liegt Changsha nicht allzu weit weg von Guangzhou und sogar auf dem Weg, aber in Changsha würde kein Flugzeug auf mich warten und mich nach Shenyang bringen. So sorgte diese Nachricht abermals für einen gewaltigen Schub Nervosität. Doch ich hatte Glück, das Wetter schien doch nicht so schlecht zu sein, und wir flogen doch nach Guangzhou. Ich war unheimlich erleichtert über diese Meldung und konnte mich für den restlichen Flug wieder entspannen. Da ich wusste, dass es im November in Shenyang sehr kalt sein wird und auch beim Abflug in Frankfurt nicht gerade schönes Wetter war, hatte ich mich entsprechend warm angezogen.
Vor dem Abflug in Frankfurt hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, um zu schauen, wo dieses Guangzhou überhaupt ist. Den Namen der Stadt kannte ich. In Deutschland ist die Stadt besser unter dem Namen Kanton bekannt. Aber wo diese Stadt jetzt liegt wusste ich bis dahin nicht. So kam es, dass ich mehr als überrascht war, als ich aus dem Flieger kam und es sonnige und verhältnismäßig warme 18°C hatte und Palmen. Auf dem Weg zum anderen Terminal, wo ich meinen Anschlussflug erreichen würde, wunderte ich mich noch ein wenig, warum bei diesem schönen und sonnigen Wetter das Flugzeug Schwierigkeiten beim Landen haben sollte (dazu später mehr).
Im Wartebereich lernte ich jemanden kennen, der so wie ich das erste Mal in China war und ebenso nach Shenyang fliegen musste. So konnte ich mich wenigstens ein bisschen unterhalten und meine Nervosität zerstreuen. Während des kurzen Fluges nach Shenyang legte ich mir ein paar Sätze in meinen Gedanken zurecht wie ich am besten ein Taxi bestellen könnte. Vermutlich wäre es am einfachsten einen Servicemitarbeiter um Hilfe zu bitten. Glücklicherweise wurde meiner neuen Bekanntschaft ein privates Taxi zur Verfügung gestellt und ich musste mir so kein extra Taxi zum selben Hotel nehmen. Dies verschob glücklicherweise den Moment, in dem ich das erste Mal mit meinem schlechten Englisch irgendwas erledigen musste für eine kurze Zeit.
Im Hotel bedankte ich mich für die Mitnahme und wir checkten in unsere jeweiligen Zimmer ein. Vor der Abreise wurde mir noch gesagt, dass es einen Shuttlebus zum Werk des Automobilherstellers, für den ich arbeiten würde, geben würde. An der Rezeption konnte man mir zwar einen Zettel aushändigen, jedoch waren die Informationen sehr dürftig. Der Rezeptionist sprach wie ich nur rudimentär Englisch und konnte mir nur sagen, dass der Bus vorm Hotel an einer Bushaltestelle fahren würde. Die Uhrzeit und die Nummer des Busses konnte ich dem Zettel entnehmen. Das fängt ja gut an, dachte ich und ging auf mein Zimmer. In der Nacht schlief ich kaum, war ich doch viel zu nervös und in Gedanken längst beim nächsten Tag und was alles schieflaufen könnte oder würde.
So stand ich am nächsten Morgen recht müde auf und machte mich nach dem Frühstücksbüffet und der Dusche auf, zu der mir genannten Bushaltestelle. Ja es war kalt, verdammt kalt als ich aus der Türe ins Freie kam. Die Wetterapp sagte Temperaturen zwischen -15 und -25°C voraus. Zum Glück hatte ich warme Kleidung angezogen. Die Luft war schlecht, richtig schlecht. Mein Kollege hatte also in diesem Punkt nicht übertrieben. Aber was will man schon erwarten, wenn es Winter ist und eine sechsspurige Straße direkt vor dem Hotel entlangführt. So machte ich mich frierend auf den Weg zur Bushaltestelle. Diese lag tatsächlich keine 100 Meter vom Hoteleingang entfernt. Ich sah mir den Fahrplan an und suchte meine Nummer, um zu prüfen, ob ich auch wirklich an der richtigen Haltestelle warte. Von meiner Nummer natürlich weit und breit nichts zu sehen.
So wagte ich es und sprach einen Passanten an, der ebenso an der Haltestelle wartete. Es war ein älterer Herr mit vollem grauem Haar. Er sprach kein einziges Wort Englisch. Doch zu meiner Überraschung bemühte er sich sehr mir zu helfen. Ich zeigte ihm den Zettel, den ich im Hotel am Vortag erhalten hatte. Er las die wenigen Zeilen und suchte die angegebene Zieladresse auf einem der Tafeln. Mein Ziel war natürlich nicht zu finden. Wäre ja zu schön gewesen. Doch plötzlich tippe der Herr mich an und deutete mir, dass ich mich doch umdrehen sollte. Verwundert drehte ich mich um und dort stand ein ebenfalls Deutscher. Erleichtert stellte ich fest, dass er, so wie ich, auch auf diesen Bus wartete und wir dasselbe Ziel hatten. Ich bedankte mich nochmals bei dem älteren Chinesen und wartete auf den Shuttlebus.
Am Ziel angekommen wartete bereits der Kunde auf mich und nachdem wir die Formalitäten an der Pforte erledigt hatten, begann mein erster Arbeitstag in China. Mir wurde ein Praktikant als Assistent zur Seite gestellt, welcher mich bei allen Arbeiten unterstützen sollte und sich um alles kümmern sollte, wenn ich doch etwas bräuchte. Alle, mit denen ich Kontakt hatte, sprachen recht gut bis sehr gut Englisch und so gab es bei der Kommunikation nur sehr wenige Probleme. Nach einem anstrengenden, aber doch angenehmen ersten Arbeitstag ging es abends mit demselben Shuttlebus wieder zurück ins Hotel.
Ich war erstaunt, dass es ca. 30 (vielleicht auch mehr) solcher Busse gab, die morgens und abends die Mitarbeiter auf verschiedenen Routen zu verschiedenen Plätzen in der ganzen Stadt brachten. Alle Busse fahren gemeinsam los, und so sieht es recht witzig aus, wenn sich eine Kolonne von 30 oder mehr gleichen Bussen in Bewegung setzt und sich wie ein Lindwurm über die Straßen schlängelt. Bei jeder Kreuzung verlor der Lindwurm dann ein paar Glieder, bis es wieder nur noch ein einziger Bus war, welcher vor meinem Hotel gehalten hat.
Als ich in meinem Zimmer angekommen war, lud ich mir eine neue App aufs Smartphone. „WeChat“. Eine App die wie WhatsApp, Facebook und PayPal in einem ist. Die Grundfunktion ist, dass man wie bei WhatsApp oder iMessage sich Nachrichten schreiben kann. Beim Anlegen des Accounts wird auch ein QR-Code generiert, welcher das hinzufügen neuer Freunde/Kontakte erleichtert, indem man nicht umständlich den Namen suchen muss oder die Telefonnummer eintippen muss, sondern man ihn einfach abscannt. Dann gibt es noch einen „Moments“-Bereich.
Das ist ungefähr wie bei Facebook, wo man Bilder, Texte oder Links posten kann, um seine Kontakte darauf aufmerksam zu machen. WeChat ermöglicht es auch, dass man Zusatzprogramme in WeChat direkt verwenden kann. Das können Spiele sein, Blogs, Nachrichten oder auch ein Programm zu Kontaktnachverfolgung in Corona-Zeiten. Dabei trägt man seine Daten in ein Formular ein und daraus wird ein neuer QR-Code generiert, welcher im Hotel/Bahnhof/Flughafen, etc. gescannt wird und den Behörden ermöglicht zu sehen, in welcher Stadt man sich aufgehalten hat. Aber die wohl wichtigste Funktion ist die Bezahlfunktion.
Diese funktioniert nur, wenn man ein chinesisches Bankkonto besitzt und ist in China allgegenwärtig. WeChat ermöglicht es den Chinesen alles, ja wirklich alles, mit dem Abfotografieren eines QR-Codes zu bezahlen. In dem Geschäft, wo man gerade einkauft hängt an der Kasse ein QR-Code, welchen man einfach abscannt und den Betrag einträgt und dann mit OK, bezahlt. Oder man zeigt den QR-Code der Bezahlfunktion seines Accounts an der Kasse vor und dieser wird von einem Scanner gescannt und die Zahlung ist erledigt. Zur Sicherheit wird jede Buchung mit einem Pincode, FaceID oder TouchID bestätigt.
Da jeder Chinese mindestens ein Smartphone besitzt ist diese Funktion allgegenwärtig. Und wohl das dominanteste Zahlungsmittel in ganz China. Diese Art der Bezahlung macht es auch möglich, bei einem Bettler, Straßenhändler, Getränkeautomat, Bäcker oder sonst wo völlig bargeldlos zu bezahlen. Alles was man dafür braucht ist ein Smartphone und oder ein QR-Code, welcher mit seiner Bankverbindung verknüpft ist. Ein Traum in Corona-Zeiten. Man muss keine dreckigen Geldscheine von einer in die andere Hand nehmen. Und der Bezahlvorgang ist ebenfalls zügiger erledigt.
Jetzt hatte ich es auch auf meinem Telefon. Dadurch konnte ich problemlos auch vom Hotel aus mit dem Kunden und Assistenten kommunizieren. In China kann man so gut wie alles über WeChat besprechen. Auch Videotelefonie oder ähnliches sind problemlos möglich. So konnten Nachbesprechungen bequem und einfach erledigt werden und ich konnte auch privat ein wenig mehr von der chinesischen Kultur kennen lernen. Wenn man das erste Mal nach Shenyang kommt, vor allem im Winter, denkt man sich, oh mein Gott ist das eine hässliche Stadt.
Und man frägt sich warum ausgerechnet dort ein deutscher Automobilhersteller sein Werk baut. Die anderen deutschen Automobilhersteller haben es nach Peking, Shanghai, Foshan (bei Guangzhou) geschafft. Warum ausgerechnet dort. Zumal es im Winter dort so eisig kalt ist. -20°C sind dort eher normal und keine Seltenheit. Das moderne Shenyang im Nordosten Chinas nur wenige 100km von Korea entfernt ist eine hässliche Industriestadt. Ohne Charme und ohne Schönheit. Doch auch dort kann man Kultur und Schönheit finden.
Der Praktikant und Assistent, welcher mir zur Seite gestellt wurde, war ungefähr im selben Alter wie ich, mit ähnlichen Interessen und wir verstanden uns sehr gut. So freundeten wir uns an und ich konnte ihm nicht abschlagen, dass er mir die Kultur und Schönheiten in dieser Stadt zeigen wollte. Wir trafen uns wie verabredet am Wochenende in der Stadt und fuhren mit dem Bus bis zu einem historischen Anwesen. Shenyang ist die Hauptstadt der Provinz Liaoning und war in der Vergangenheit kulturelles und wirtschaftliches Zentrum Nordostchinas. Aber vor allem war es als Hauptstadt unter dem Namen Mukden der Mandschurei bekannt. Deswegen steht auch dort der einzige Kaiserpalast außerhalb Beijings (Peking).
Von dort eroberte die Qing-Dynastie China und verlegte den Herrschaftssitz bis 1911, dem Ende der Kaiserzeit, nach Beijing. Die Palastanlage in Shenyang ist vom Aufbau ähnlich der der Verbotenen Stadt, jedoch deutlich kleiner und weniger prunkvoll. Allerdings trotzdem imposant und beeindruckend. Des Weiteren gibt es einen historischen Altstadtkern mit Gebäuden im europäischen Stiel. Darunter eine Bank und ein prunkvolles Anwesen von Marschall Zhang. Der Eben genannte ist ein Nationalheld und wird für den bewaffneten Kampf gegen die japanische Besetzung geehrt. Nach dem Zusammenbruch der Qing-Dynastie soll er den gemeinsamen Kampf von Kommunisten und Nationalisten möglich gemacht haben und in Shenyang den ersten LKW chinesischer Produktion initiiert haben. Abgesehen des geschichtlichen Hintergrundes bietet das Anwesen eine riesige Parkanlage mit diversen Gebäuden im europäischen Stiel.
Die Stadt bietet auch diverse Denkmäler des zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges, in dem die damalige Mandschurei eine Schlüsselrolle spielte. Auch wenn die Stadt eine über 2000 Jahre alte Geschichte zu bieten hat und man davon auch noch einiges bestaunen kann, ist die Stadt im Großen und Ganzen industriell geprägt und nicht sonderlich schön anzusehen. Mehr als einen Tag muss man bei einem touristischen Besuch nicht unbedingt investieren.
Nachdem ich also die historischen Plätze besichtigt hatte, besuchten wir ein Restaurant. In China sind die meisten Restaurants nach der Art des Essens sortiert. Das von uns besuchte Restaurant offerierte ausschließlich Hot Pot. Eine Art Fondue. Man erhält eine große Schüssel mit Brühe, welche zentral auf dem Tisch beheizt wird. Und dazu kann man zwischen unzähligen Beilagen wählen, welche in der Brühe gekocht und anschließend verspeist werden. Den Geschmack der Brühe kann man natürlich auch nach seinen Wünschen wählen. Von Tomatensuppe bis ultrascharfer Brühe steht quasi alles zur Wahl. Gerade für die Winterzeit ein sehr beliebtes Gericht, wird aber auch im warmen Süden genossen.
Für mich war es das erste Mal, dass ich Hot Pot aß. Und es war auch ein Grund warum ich das chinesische Essen lieben gelernt habe. Durch die unzähligen Variationen wird es quasi nie langweilig und schmeckt jedes Mal etwas anders. Der Praktikant ermunterte mich auch bei diesem Gericht mit Stäbchen zu essen. Anders wäre es vermutlich auch in diesem Restaurant nicht möglich gewesen, da man nur in westlichen Restaurants Besteck bekommen kann, doch selbst dort ist es keine Selbstverständlichkeit. So mühte ich mich mit den Stäbchen ab glitschige Pilze in meinen Mund zu bekommen. Was für Erheiterung bei meinem Gegenüber sorgte. Aber auch wenn die meisten Menschen denken mögen, dass das Essen mit Stäbchen ein Ding der Unmöglichkeit wäre, ist es im Prinzip ganz einfach, wenn man sie richtig hält. Anfangs bereiten Nudeln oder andere glitschige Speisen Probleme, doch mit ein wenig Übung geht auch das recht einfach.
Während meiner Arbeit im Werk des Automobilherstellers lernte ich auch eine Werkstudentin kennen, mit welcher ich mich anfreundete. Wir schrieben häufig abends und ich lernte meine ersten Worte Chinesisch. Ich war überaus dankbar, dass ich mit jemandem ganz normal reden konnte, wenn auch auf Englisch. Mit jedem neuen Tag in China lernte ich mehr über das Leben, die Kultur, Eigenheiten und Gepflogenheiten kennen. Es war damals, wie wenn man in eine völlig neue Welt eintaucht.
Und sehr schnell musste ich feststellen, dass all die Vorurteile, welche ich zuvor hatte und so gut wie alles, was ich zu wissen geglaubt hatte völlig falsch oder anders war. Die Menschen dort sind nicht kalt oder oberflächlich. Sie sind auch nicht egoistisch oder gar böse, wie man so häufig denkt und hört. Chinesen sind sehr hilfsbereit und sehr freundlich. Es ist auch eine echte Freundlichkeit und nicht aufgesetzt wie zum Beispiel in den USA, wo mir die Freundlichkeit immer gezwungen und irgendwie unpassend angefühlt hatte. Chinesen sind zwar darauf bedacht, ihr Gesicht zu wahren und viele wollen es unter keinen Umständen verlieren, doch trotzdem sind sie hilfsbereit und sehr nett und freundlich.
Dank der Freundschaft, die ich erfahren habe, wich mein Unbehagen von vor der Reise jeden Tag mehr, bis es schließlich komplett verschwunden war. Doch leider war es bei meiner ersten Reise wie bei jeder Reise. Sobald man sich wohl fühlt und endlich angekommen zu sein scheint, neigt sich die Zeit auch schon dem Ende zu und man muss die Heimreise antreten. Doch vielleicht ist es genau das, was wir brauchen, um erneut zu einer Reise aufzubrechen. So kam auch bei meiner zweiwöchigen Reise der Tag, an dem ich abreisen musste. Im Nachhinein ein Tag, der mein Leben komplett auf den Kopf stellen sollte und womit ich nie gerechnet hatte.
Aber auch wenn der Tag der Abreise für mein zukünftiges Ich als der schönste Tag gelten wird, startete der Tag damals alles andere als schön. Jeden Abend im Hotel gab es ein reichhaltiges Buffet. Es gab chinesische Küche aber auch europäische Küche. Doch warum etwas essen, das ich vermutlich besser jeden Tag beim Imbiss um die Ecke in Deutschland holen kann, wenn man das sehr leckere chinesische Essen genießen kann.
Dazu sei gesagt, dass Essen im China Restaurant in Deutschland kein chinesisches Essen ist. Das Essen in China ist abwechslungsreich, mal süß, mal scharf, nie langweilig und jeden Tag ein bisschen anders. Und so hatte ich wie jeden Abend auch am Abend vor der Abreise sehr reichlich gegessen. Schließlich war es der letzte Tag und wann könnte ich jemals wieder ein so leckeres Pilzgericht essen? An jenem Abend hatte es zusätzlich zum Buffet, was ich schon kannte, ein Pilzgericht gegeben. Und ich hatte zu viel davon gegessen. Die Nacht war von Magenkrämpfen geplagt worden.
Deshalb hielt sich meine Freude, dass der Praktikant und guter Freund, nicht frei bekommen hat, um mich zum Flughafen zu begleiten, sehr in Grenzen. Aber das Schicksal meinte es gut mit mir. Ich hatte ja auch eine Freundin gefunden. Sie sagte zu, mich zum Flughafen zu begleiten. Damit kam ich erneut drumherum einem Taxifahrer mit Händen und Füßen zu erklären, wo ich denn hinmüsste. Die Taxifahrer sprechen zwar alle fließend chinesisch und haben mir dadurch enorm viel voraus, doch mit Englisch sieht es meist schlecht aus. So war ich mehr als glücklich, als meine neu gefundene Freundschaft sich dazu bereit erklärte mich morgens im Hotel abzuholen und wir gemeinsam mit dem Taxi zum Flughafen fahren würden.
Aufgrund meiner Magenkrämpfe gab es außer einem heißen Tee kein Frühstück an diesem Morgen und ich machte mich pünktlich auf und ging in die Hotelhalle, wo wir verabredet waren. Sie erwartete mich bereits mit einer guten Freundin, da sie sich nicht getraut hatte allein zu kommen. Nach einer kurzen Begrüßung checkten wir mich gemeinsam aus. Wir riefen ein Taxi und fuhren los. Während der Fahrt unterhielten wir uns zusammen über Gott und die Welt. Und so zogen die Häuserblocks an uns vorüber.
Plötzlich merkte ich, dass das Taxi nicht zum Flughafen fuhr, sondern einen anderen Weg nahm. Erst dachte ich, dass der Taxifahrer es schon wüsste, und meine beiden Begleiterinnen ihm das Ziel in chinesischer Sprache aufgetragen hatten. Aber ich lag falsch. Meine Begleitung hatte ihm gar nicht den Flughafen als Ziel genannt, sondern ein Einkaufszentrum. Als wir ausstiegen fragte ich verwundert, was wir denn hier machen würden. Die beiden Damen luden mich zum Mittagessen ein. Zeit dazu war mehr als genug vorhanden und so gingen wir gemeinsam zu einem kleinen Restaurant in der Mall. Wir bestellten Verschiedenes und warteten auf das Essen.
Während wir warteten stand meine Freundin auf und verschwand wortlos. Jetzt saß ich mit ihrer Freundin allein am Tisch und wir versuchten uns ein wenig zu unterhalten. Glücklicherweise wurde das stockende Gespräch mit dem Bringen unseres Essens unterbrochen und wir mussten uns nicht peinlich anschweigen. Ich as ein wenig vom Reisgericht, um nicht nichts zu essen. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte auch meine neue Freundin wieder auf und sagte, dass sie eine Überraschung für mich hätte, wenn wir mit dem Essen fertig seien. Erstaunt fragte ich nach, jedoch sollte es eine Überraschung bleiben.
Also aßen wir gemeinsam auf, zahlten mit WeChat die Rechnung und verließen das Restaurant. Ich wurde ins Untergeschoss des Einkaufszentrums geführt. Dort mitten im breiten Gang zwischen den Läden, war ein einfacher Stand aufgebaut und über und über mit Porzellanfiguren bestückt. Vor der Reise hatte ich meiner Schwester versprochen eine Manekineko Katze oder auch Winkekatze zu besorgen und hier in der Mall war meine Freundin fündig geworden. Ich hatte es zuvor nur beiläufig in einem unserer Chats in WeChat erwähnt. Ich war gerührt und hatte mit allem gerechnet, doch nicht damit.
Sie hatte mich mehr als nur ein bisschen überrascht. Ich war überglücklich doch noch eine solche Katze besorgen zu können und suchte eine hübsche kleine Katze für meine Schwester aus. Ich hatte es doch noch geschafft für jeden ein kleines Souvenir zu finden. Glücklich bedankte ich mich bei ihr für diese Geste und die Mühe und wir konnten erneut die Reise zum Flughafen antreten. Doch dieses Mal sollte es tatsächlich zum Flughafen gehen.
Der Flughafen in Shenyang lässt sich von der Größe ungefähr mit dem Flughafen in Stuttgart vergleichen. Recht klein und uninteressant. Man hat nicht sonderlich viele Möglichkeiten zum Einkaufen. So setzten wir uns auf eine Bank und unterhielten uns noch eine Weile, um die Zeit, bis ich zum Sicherheitscheck müsste, zu überbrücken. Wir machten noch ein paar Abschiedsbilder. Schließlich war es Zeit zum Sicherheitscheck zu gehen und ich machte mich daran zu verabschieden.
Ich gab ihrer Freundin eine kurze und kaum merkliche Umarmung und dann auch ihr. Als wir uns nach ein oder zwei Sekunden wieder lösten und sie sich dem Gehen zu wenden wollte, zog ich sie zurück und es gab eine lange und innige Umarmung. Es schien als würde die Zeit stillstehen und alles um uns herum verschwimmen und schließlich verschwinden. Alles war so unwirklich. Es fühlte sich regelrecht komisch an. Und doch schön. Aber warum? Was war da gerade passiert? Wir lösten uns ein wenig verunsichert.
Nachdem wir beide unsere Fassung wiedergefunden hatten verabschiedeten wir uns und ich ging Richtung Sicherheitscheck. Beide hatten wir etwas gefühlt und beide hatten wir es nicht verstanden. Dieser kurze Moment sollte alles ändern, auch wenn wir beide es zu diesem Zeitpunkt nicht verstanden hatten und damit nicht gerechnet hatten. Der Sicherheitscheck dauerte erstaunlich kurz und so musste ich noch eine ganze Weile warten, bis das Boarding startete. Aber es war nicht langweilig. Wir schrieben unzählige Nachrichten in WeChat. Selbst als ich schon im Flieger saß schrieben wir weiter.
Erst der Flugmodus setzte dem ein Ende und so krochen die endlosen Minuten während des Fluges an mir vorüber. Ein Film nach dem Anderen lenkte mich ein wenig ab. Das unbequeme Schlafen im Flugzeug ersparte ich mir. Das schönste am Fliegen ist jedoch die Aussicht, die man bei gutem Wetter genießen kann. Von Beijing geht es über die Wüste, die sich erschreckend nah an der Hauptstadt befindet, über Russland nach Deutschland. In Russland sieht man größtenteils nur Wald, endlose Waldflächen. Bis man schließlich im Westen über Sankt Petersburg, Ostsee an Schweden entlang bis nach Deutschland fliegt. Wenn das Fliegen aufgrund der miesen Sitze und der langen Sitzdauer nicht so ermüdend und unbequem wäre, dann wäre das Fliegen traumhaft schön.
In Frankfurt angekommen wurde als erstes WeChat geöffnet und all die Nachrichten gelesen, die ich verpasst hatte. Schnell eine kurze WhatsApp Nachricht in der Familiengruppe und an die beiden besten Freunde, dass ich wieder in Deutschland bin und sicher gelandet bin. Dann wurde fleißig weiter in WeChat geschrieben. Trotz dessen, dass zwischen China und Deutschland im Winter satte sieben Stunden Zeitdifferenz liegen, schrieben wir unzählige Nachrichten, bis ich schließlich zu Hause angekommen war und eine heiße Dusche nehmen konnte. Erst schwitzt und friert man im Flieger und dann hockt man im mäßig schmutzigen ICE von Frankfurt nach Stuttgart. Da hilft nur eine heiße Dusche. Diese kurze Reise hatte mein Bild von China gehörig auf den Kopf gestellt und all meine Vorurteile ins Gegenteil verkehrt.
Und so endete eine Reise, die so viele Eindrücke und Spuren hinterlassen hat. Eine Reise, die ich nie vergessen werde. Aber das ist nicht das Ende meiner Reise, sondern erst der Anfang.